14.06.2013

Autonomie

von Coloniacs in KD Rückblick


Da mittlerweile alle Ausgaben unseres Kallendresser vergriffen sind, werden wir in nächster Zeit immer mal wieder ältere Artikel aus eben diesem hier veröffentlichen.  Bitte bedenkt immer, dass die Artikel teilweise schon mehrere Jahre auf dem Buckel haben und nicht mehr alle Aussagen zu hundert Prozent zutreffen müssen!

Autonomie

»Der Mensch wird frei geboren und überall liegt er in Ketten«, so beschreibt Jean Jacques Rousseau schon vor über 300 Jahren den Ist-Zustand des menschlichen Individuums innerhalb der Gesellschaft. Betrachtet man die heutige Gesellschaft und die Bürger, muss man eindeutig feststellen, dass sich an der Realität, die Rousseau zum damaligen Zeitpunkt beschrieb, nichts geändert hat.

In diesem Zusammenhang sollte sich jeder die Frage stellen, wie man Freiheit überhaupt definieren kann. Gibt es die individuelle Freiheit, in der sich jeder Mensch so entfalten kann, ohne dass der Nebenmann selbst in seiner Freiheit beeinträchtigt wird? Haben wir überhaupt eine Möglichkeit, diese so genannten Ketten zu zerreißen?

Um dieses Thema genauer zu betrachten, muss man sich zuerst einmal mit dem klassischen Verständnis von Autonomie auseinandersetzen. Nach dem theoretischen Autonomieverständnis beschreibt Autonomie die Fähigkeit einer Gruppe oder eines Staates, ihre Verhältnisse und Angelegenheiten selbst zu regeln und unabhängig zu handeln, ohne dass etwas von einer fremden Macht auferlegt wird. Bestrebungen nach Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit sind somit zentrale Punkte des allgemeinen Verständnisses der Autonomie.

Dieses doch sehr abstrakte Verständnis von der Autonomie einer Gesellschaft kann man auch auf die Subkultur der Ultràszenen übertragen. Denn auch hier ist man bestrebt, durch mehr Selbstbestimmung Freiräume und Entfaltungsspielräume für kreative, abwechslungsreiche und bunte Fanszenen in unseren Kurven zu schaffen.

Ein aktuelles Beispiel für die im Gegensatz zur Autonomie stehende Fremdbestimmung ist der fragwürdige Vorschlag des Präsidenten des Fußballweltverbandes, Herrn J. Blatter, über die Abschaffung von Stehplätzen nachzudenken. Und das nur, weil ein sitzender Fan ein ruhigerer sei. Doch durch eine solch drastische Beschneidung und Einengung von Leidenschaft und Emotionen ist eine freie Weiterentwicklung der Fanszenen nahezu unmöglich. Es würde dazu führen, dass die Ultràgruppen als Teil einer kritischen und freidenkenden Bewegung nach und nach aus den Stadien verschwinden und im Gegensatz dazu das gutzahlende Eventpublikum den Platz der Gruppen einnimmt. Für den Verein natürlich aus mehreren Gründen ein vorteilhafter Prozess, da sich dieses »normale Publikum« kaum kritisch mit der Klubführung sowie der Kommerzialisierung auseinandersetzt und außerdem mehr im Stadion konsumiert als der unangepasste Stehplatzfan.

Genau dieses unterwürfige und ergebene Verhalten spielt eine entscheidende Rolle dabei, dass die Vereine versuchen, die Grenzen ihres Diktats immer weiter auszuloten und beispielsweise bargeldlose Zahlsysteme innerhalb unserer Stadien einzuführen. Es geht hier nicht darum, eine Opposition zum Verein und seiner Politik zu stellen, sondern darum, die Möglichkeit zu erhalten, gewisse Mitspracherechte – besonders bei Eingriffen in persönliche Bereiche – zu bekommen.

Diese kritische Auseinandersetzung mit dem Verein, den Idealen oder dem Fußballsport im Allgemeinen ist auch ein Teil der Unabhängigkeit, die eine Fanszene benötigt, um sich mehr Freiräume zu erkämpfen und sich weiterzuentwickeln. Es sollte nicht alles, was vom Verein auferlegt wird, kommentarlos akzeptiert, sondern vielmehr kritisch hinterfragt werden. Eine Einschränkung, wie es sie schon des Öfteren bei Zensur und Verboten von Spruchbändern, Choreos oder Verwendung von Megaphonen durch Vereine und die Staatsmacht gegeben hat, fördert auch nicht wirklich das Verhältnis zueinander. Hier wäre eine Selbstregulierung in den eigenen Reihen viel wirkungsvoller als ein ständiges Reglementieren von außen.

Auch in seiner persönlichen Freiheit muss ein Fußballfan in unseren Gefilden Woche für Woche Einschränkungen und Entbehrungen  hinnehmen. So wird er beispielsweise der Totalüberwachung bei allen Fußballspielen ausgesetzt oder seine Bewegungsfreiheit bei Auswärtsspielen völlig beschränkt. Eine fortschreitende Stigmatisierung und Kriminalisierung von Fans in der Öffentlichkeit durch die Ordnungsbehörden und Medien trägt ihren Teil dazu bei, dass Restriktionen weiterhin eine breite Akzeptanz in der unwissenden Bevölkerung finden.

Doch muss man das wirklich akzeptieren? Jeder Stadionbesucher und Vereinsfunktionär sollte sich die Frage stellen, ob es nicht dieser lautstarke, kritische und unangepasste Fan war, der den Fußball zu dem gemacht hat, was er heute ist. Und auch heute noch jede Woche dafür sorgt, dass der Fußball in Deutschland der Sport Nr. 1 ist. Bilden diese Fans nicht trotz allem das Herzstück des Vereins? Sind sie es nicht vielleicht gerade wegen ihrer kritischen, aber zugleich hundertprozentigen Einstellung zum Verein und der Forderung nach Selbstbestimmung und Freiheit?

Problematisch wird es jedoch dann, wenn Freiheit in der Kurve gleichgesetzt wird mit Anarchie, also regellosen oder herrschaftslosen Verhältnissen. Diese wären im Rahmen der vernunftorientierten Selbstregulierung dann doch wieder äußerst kontraproduktiv, da in unseren Kurven ein respektvolles Miteinander und gegenseitige Rücksichtnahme Grundvoraussetzung und Regel für eine starke, geschlossene Gemeinschaft sein müssen. Die persönliche Freiheit ist somit nur möglich, wenn der Zustand der Fremdbestimmungen und Repressionen überwunden wird, gleichzeitig aber Regeln im Umgang miteinander eingehalten werden.

Jeder sollte seine Emotionen im Rahmen ausleben können – jedoch im Rahmen der Vernunft, sodass sich auch irgendwann den vermeintlichen Ordnungshütern die Frage stellen sollte, ob ihr eigenes, übermäßiges und unreflektiertes Handeln nicht völlig unangebracht ist.